'Slowtravel' durch Lettland
Weite Felder, flache Hügel, grünes Gras, blauer Himmel mit weißen Schäfchenwolken, immer wieder Störche oder Storch-Familien, im Hintergrund lettische Musik, die aus dem Radio klingt – wir fahren durch Lettland, ein neuer Sehnsuchtsort für mich.
Ich hatte das Glück, als Globetrotter-Kind aufzuwachsen und schon sehr früh, sehr viel von der Welt zu sehen. Dabei bin ich in einer Zeit groß geworden, als es darum ging, möglichst viele Orte in einem überschaubaren Zeitraum zu entdecken. Häufig ging es für einen Kurztrip in eine Metropole, für wenige Tage wurden lange Flugstrecken in Kauf genommen. Vor Ort standen Museen, Kirchen und Sehenswürdigkeiten im Fokus eines jeden Besuches. Ein Ausflug hier, ein Besuch da, um die Sehnsuchtsorte dieser Welt einmal kurz vor Augen zu haben. Seit einiger Zeit stelle ich diese Form des Reisens zugegebenermaßen in Frage. Meine Tage in Lettland haben diese Gedanken nochmals untermauert und eine Begegnung auf dem Land, östlich von Riga, nochmals besonders.
Unsere fünf-tägige kulinarische Reise durch einen kleinen Teil Lettlands, mit einem kurzen Stop in Riga und dann weiter auf’s Land östlich der baltischen Hauptstadt hat unserer kleinen Gruppe an Reise- und Food-Liebhabern schon eine solche bunte Vielfältigkeit des Landes gezeigt, dass man nur den Wunsch hegen kann nochmals wiederzukommen, um mehr zu entdecken. Wir haben Restaurants, Bars und wunderschöne Hotels besucht, haben die grünen Wiesen und Wälder auf unseren Fahrten zwischen den Besuchen bewundern dürfen und vor allem viele Menschen kennengelernt, die voller Stolz und sehr persönlich ihr Land vorgestellt haben. Wären wir nicht nur fünf Tage unterwegs gewesen, hätte ich gesagt, es war eine wunderbare Slow Travel Reise.
Die Idee des Slow Travel entstand in den 1990er Jahren als Reaktion auf die zunehmende Beliebtheit von Massentourismus und Pauschalreisen aufgrund wachsender Wirtschaftskraft weltweit. Die Slow-Travel-Bewegung wurde mit Blick auf meine kulinarische Lettland-Reise passenderweise von der Slow-Food-Bewegung inspiriert, die sich für eine bewusste, nachhaltigere und qualitativ hochwertige Art des Essens einsetzt. Etwas, das mir persönlich in meiner täglichen Arbeit selbst sehr am Herzen liegt.
Slow Travel ist eine Art des Reisens, die den Fokus auf die Erfahrung, die Entdeckung und die Interaktion mit der Kultur, den Menschen und der Natur setzt. Langsames und bewusstes Reisen steht im Kern, um die Schönheit und den Charme eines Ortes zu erleben und zu genießen, anstatt nur einen Haken auf der Bucket-Liste eintragen zu können. Ein bisschen wie man den Geschmack einer Mahlzeit und der einzelnen Lebensmittel, die darin verarbeitet wurden, versucht, mit Ruhe und Genuss in vollen Zügen wahrzunehmen und gleichzeitig die Herkunft der Zutaten zu ehren.
Langsame und nachhaltige Reisen sollen außerdem dazu beitragen, die lokale Wirtschaft zu unterstützen, den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren und authentische und unvergessliche Erlebnisse zu schaffen.
Letztlich haben wir genau auf diese Weise ein erstes Gefühl für dieses wunderbare kleine Land an der Ostsee versucht zu erhaschen. Nachdem wir in Riga auf dem Zentralmarkt einen ersten Einblick in die Kulinarik des Landes bekommen haben, über landestypische Lebensmittel wie Sprotten und Lachs, Roggen, Beeren, deren Verarbeitung und Haltbarmachung durch räuchern, fermentieren und trocknen bekamen wir im landesweit bekannten Restaurant 3Pavaru vom TV-Chef Mārtinš Sirmais eine erste Kostprobe. Auf die Frage nach seinem liebsten lettischen Gericht beschrieb er eine in Mehl panierte und in Öl gebratene Sprotte, dazu sehr reife, geschmackvolle Kartoffeln mit einer Creme aus Quark und Meerrettich. Ich hätte mich direkt zu ihm an den Tisch gesetzt.
In den nächsten Tagen ging es für uns zu Lebensmittelherstellern, die landestypische Obst trocknen und als gesunden Snack anbieten - Ramkalni - zu einem Hersteller von Birkensaft und dem in Lettland gefeierten Birkensirup - Birzī - zum Bierhersteller Valmiermuiza und zum Fischverarbeiter Brīvais. Die landestypische Küche durften wir nicht nur im 3Pavaru, übersetzt drei Köche, genießen, sondern auch im Pavāru Māja in Ligatne, die sich Slow Food auf die Fahne geschrieben hat, bei dem sehr beeindruckenden Renard Purmalis, der für uns in der Outdoorküche das typische, lettische Roggenbrot ‘Rupjmaize’ gebacken und danach daraus die köstlichste Brotsuppe ‘Rupjmaizes kārtojums’ gezaubert hat, in einer kleinen lokalen Käserei, die uns gezeigt haben wie der landestypische Kümmelkäse, der zu Midsommar gereicht wird in einer kleinen Bauernhof Küche zubereitet wird und nicht zu vergessen das Sechsgängemenü an unserem letzten Abend im imposanten und gleichermaßen charmanten Landgut Liepupes Manor. So viele Eindrücke. Alles begleitet von den Eindrücken und Geschichten der Menschen, die die Lebensmittel herstellen, zubereiten und die kulinarischen Traditionen des Landes wahren.
Ein Stopp, der mir aber dauerhaft in besonderer Erinnerung bleiben wird, ist der bei "Meža Eva", der aus dem lettischen übersetzt "Wald-Eva" bedeutet. Eva hat uns für einige Stunden auf ihrem Landsitz Bringi Manor willkommen geheißen, uns von ihrem Leben auf dem Land erzählt und mit ihrem befreundeten Koch Uģis ein zauberhaftes Mahl aus rein lokalen Zutaten an einer langen Tafel serviert.
Eva ist gelernte Übersetzerin, hat den klassischen 9-5 Job in der Stadt gelebt, einen Sohn großgezogen, der mittlerweile sein eigenes Geld als Musiker verdient. Heute führt sie diesen alten Landsitz, den sie eigenhändig und behelfsmäßig renoviert und verträumt-charmant eingerichtet hat, als Café, Gästehaus und Begegnungsstätte, wo man drauf Wert legt, weniger, bzw am liebsten gar nicht auf die Uhr zu schauen. Mit den Klängen von meditativer Musik und dem Duft von Weihrauch führt sie uns durch ihre verträumten Räume.
Das Herrenhaus befindet sich in der Region Vidzeme im Norden von Lettland, etwa 120 Kilometer nordöstlich von Riga. Es wurde im 18. Jahrhundert im Barockstil erbaut und diente als Wohnsitz der Adelsfamilie von Fock. Das Herrenhaus hat im Laufe der Jahrhunderte mehrere Besitzer und Funktionen gehabt, darunter als Schule und Altersheim. Es gibt mehrere historische Gebäude auf dem Gelände, darunter das Herrenhaus selbst, ein Wirtschaftsgebäude, ein Speicher und eine Mühle. Heute beherbergt das Haus im oberen Geschoß nicht nur Eva’s Schlafgemach sondern auch mehrere Bettenlager, wo im Sommer auch mal Kindergruppen sich austoben können, die sich nach Eva besonders wohlfühlen, weil man in diesem alten Haus nicht immer Sorge haben muss etwas kaputt zu machen. In diesen Frühjahrsmonaten ist es im Haus kalt, denn es werden nur 2-3 vereinzelte alte Öfen für das gesamte Haus beheizt. Die Toiletten sind biologischer Natur und fließendes Wasser gibt es auch nur an einzelnen Stellen im Gebäude. Aber das macht gefühlt gar nichts. Denn man wird eingenommen von der ganzen Atmosphäre der Räumlichkeiten und kommt gefühlt in sich zur Ruhe. Die Uhren ticken im Bringi Manor langsamer. Das liegt vor allem an Eva.
Eva, die den Spitznamen ‘Wald Eva’ trägt, hat vor einigen Jahren den Drang gespürt, aus ihrem klassischen, modernen Leben auszubrechen und ihrem Empfinden nachzugehen, was ihr selbst gut tut, was ihr Spaß macht. In einem spontanen Moment hat sie ihren Job gekündigt und sich dann durch Dekorationsaufträge ihren Lebensunterhalt verdient. Das Eva dafür Gespür hat sieht man im Herrenhaus in jeder Ecke - ob es das klassisch lettische Windspiel ‘Puzuri’ ist, das sich sanft im Zug des Hauses dreht, die vielen kleinen Ornamente, die das Haus Schmücken, oder die Kränze aus getrockneten Gräsern oder Moos, überall steckt der Sinn für natürliche Schönheit. Durch einen Zufall ist sie an dieses wunderschöne alte Gemäuer gekommen, das sie für den Bestítzer in den Grundzügen aufgemöbelt hat und nun als Begegnungsstätte betreibt. Dabei lebt Eva nach dem Prinzip, dass das, was im Leben sein soll, sich fügen wird. So lebt sie nach ihrem eigenen Rhythmus und ihre Tage sind gesteuert von ihrer eigenen Intuition in Einklang mit den Jahreszeiten und der Natur. Viele Jahre hat Eva viel Zeit im Wald verbracht und dabei ein immenses Wissen zur Pflanzenwelt gesammelt. So nimmt sie uns mit auf die Wiesen vor der Türe, um Gräser und Kräuter für unser anstehendes Mahl zu sammeln.
Gestartet wurde mit einem herrlich grünen Smoothie aus Stechginster, Löwenzahn und Brennessel (Rezept findet ihr am Ende des Blogposts). Gefolgt wurde es zur Vorspeise von einem bunten Salat u.a. mit Tomaten (aus dem Gewächshaus), Radieschen, Gurken, Brennnessel, Löwenzahn und Riedgras, dazu selbstgebackenes Brot mit Pesto aus Wiesenkräutern. Als nächster Gang wurde eine Suppe aus Brühe, Gemüse und, nach lettischer Tradition, geräuchertem Fleisch präsentiert. Zum Abschluss wurde an der langen Tafel ein Ragout aus hiesigem Wildschwein, vom benachbarten Jäger nach Beouf Bourgignon Stil serviert, den auch ich gegessen habe und der wirklich ausgezeichnet geschmeckt hat. Beseelt von spiritueller Musik, Düften und inspirierenden Gedanken sind wir nach einigen Stunden wieder abgefahren. Dieser wunderbare Ort wird mir in Erinnerung bleiben.
Meine kurze Reise durch einen kleinen Teil dieses baltischen Staates hat mich zum Denken angeregt. Der Stolz, mit dem die Menschen, denen wir begegnet sind, von ihrem kleinen Land berichten, die traditionelle und sehr nachhaltige Einstellung zum Umgang mit Lebensmitteln, die Verbundenheit zur Natur haben mich beeindruckt und werde ich als Inspiration in mir tragen. Wie ich zukünftig reise wird sich sicherlich auch in den nächsten Jahren stark verändern, angeregt durch den Kontakt zu so vielen Menschen in Lettland, ihren persönlichen Geschichten, der wunderbaren Natur, den Wiesen und Wäldern hindurch wir gefahren sind. Mehr Zeit für Slow Travel.
Rezepte
Smoothie: jeweils eine Handvoll Brennesseln, Löwenzahn-Blätter, Stechginster, junge Johannisbeer Triebe, dazu Wasser, Hafermilch, Honig, Moosbeeren (Cranberries), eine Banane, 1-2 Löffel Spirulina nach eigenem Empfinden in der Küchenmaschine gut vermischen.
Wiesen-Pesto: Brennessel, Geißfuß, Löwenzahn-Blätter, Olivenöl, Zitronensaft, Salz und Pfeffer nach eigenem Empfinden in der Küchenmaschine zerkleinern und gut vermischen.
Salat: Tomaten (wenn die Saison es zulässt), Radieschen, Gurke, Brennessel, Geißfuß, Löwenzahnblüten, Schlüsselblumen, Treibe von Riedgras, junge Johannisbeerblätter, gewürzt mit Olivenöl, Birkensirup und Salz und Pfeffer.
Den Birkensirup kann man übrigens bei Brizi auch online bestellen.